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Steigende Zinsen gefährden europäische Staatshaushalte
Bruno Cavalier – Chefökonom ODDO BHF
Wesentliche Punkte:
- Die Refinanzierungssätze liegen erneut über den Wachstumsraten.
- Dies setzt die Regierungen weiter unter Druck und zwingt sie zu Ausgabenkürzungen.
- Brüssel, die Märkte und die Ratingagenturen werden künftig noch wachsamer sein.
- In Frankreich sind die zu hohen Ausgaben das Problem, in Italien die zu hohen Schulden.
Die europäischen Regierungen mussten die Haushalte für 2024 unter schwierigen Bedingungen aufstellen. Dabei kamen insbesondere drei negative Faktoren zusammen: der Abschwung der Konjunktur; der Anstieg der Anleihezinsen auf ein seit langem nicht mehr gesehenes Niveau; und eine verschärfte Wachsamkeit von Aufsichtsbehörden und Ratingagenturen in Bezug auf Staatsschulden.
Infolgedessen werden die haushaltspolitischen Maßnahmen in vielen Ländern zum ersten Mal seit vier Jahren wieder restriktiver – oder zumindest weniger expansiv – ausfallen müssen . Seit 2020 waren die Staatshaushalte massiv aufgebläht worden, zuerst 2020 als Reaktion auf den Lockdown, und 2022, um die Folgen der Energiekrise abzufedern. Diese beiden Schockwellen sind heute weitgehend überwunden. Daher ist es vollkommen normal, dass die öffentlichen Ausgaben wieder zurückgefahren werden. Im aktuellen Umfeld (Wachstum, Inflation, Zinssätze) ist dies allerdings nicht einfach.
Bevor wir uns mit den Risiken befassen, betrachten wir zuerst die Ausgangslage nach vier außergewöhnlichen Jahren. Als im Frühjahr 2020 in vielen Ländern strikte Maßnahmen ergriffen wurden, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, führte dies zu einem beispiellosen Schock für die Staatshaushalte. Auf der einen Seite sanken die Steuereinnahmen, da die Wirtschaft praktisch zum Stillstand kam, und auf der anderen Seite ließen die Unterstützungsmaßnahmen für Unternehmen und Privathaushalte die Ausgaben explodieren.
Im Euroraum als Ganzes ist das Haushaltsdefizit in Relation zum BIP folglich um mehr als 10 Basispunkte gestiegen: Lag der Wert Ende 2019 noch bei 0,9%, stieg er bis Mitte 2020 auf 12 % und markierte damit ein absolutes Rekordhoch. In den vier Jahren von 2020 bis 2023 betrug das Defizit im Durchschnitt 4,8 % des BIP pro Jahr und lag damit auf ähnlichem Niveau wie von 2009 bis 2012 (5,1 %).
Die Entwicklung der Verschuldung verlief hingegen sehr unterschiedlich. Nach der globalen Finanzkrise von 2008 war die Schuldenquote sprunghaft angestiegen (+25 BIP-Punkte innerhalb von vier Jahren) und danach nie wieder auf ihren Ausgangspunkt zurückgegangen. Während der Pandemie ging die Schuldenquote nach einem sehr starken Anstieg (+13 Prozentpunkte in einem Jahr) um etwa 10 Prozentpunkte zurück, nachdem das Ende der Eindämmungsmaßnahmen zu einem kräftigen Aufschwung und im Anschluss daran zu einer starken Teuerung geführt hatte, woraufhin die Steuereinnahmen stiegen.
Anders ausgedrückt: Nach der Finanzkrise herrschte ein deflationäres Umfeld, nach der Pandemie ein inflationäres. Die Inflation ließ die Schuldenlast sinken und machte es leichter, Ausgabenerhöhungen zu beschließen, aber sie ist auf lange Sicht keine „Lösung“.
Daher bestehen im derzeitigen Umfeld zahlreiche Risiken. Die Steuereinnahmen hängen vom nominalen BIP ab. Die jüngsten Trends deuten jedoch auf eine Verlangsamung sowohl des Geschäftsvolumens (Stagnation und Rezessionsgefahr) als auch der Preise (Disinflation) hin. Das nominale BIP stieg 2021 und 2022 um 7,8 % bzw. 8,2 %, und für 2023 wird ein Wachstum von 6,2 % erwartet. Unsere Prognose für 2024 liegt bei 3 %.
Außerdem sind die Zinssätze nach einem dramatischen Anstieg in den vergangenen zwei Jahren nun höher als das Wirtschaftswachstum . Von Oktober 2021 bis Oktober 2023 stieg die Rendite zehnjähriger Staatsanleihen in Deutschland von -0,3 % auf fast 3 %, in Frankreich von 0 % auf 3,5 % und in Italien von 1 % auf fast 5 %. Der Zinsanstieg verteuert den Schuldendienst. Die kurzfristigen Auswirkungen sind zwar eher gering, da Staatsanleihen in Europa eine durchschnittliche Laufzeit von etwa acht Jahren haben, doch sollten die Kreditzinsen nicht wieder sinken, dürften sich die Auswirkungen nach einer Weile stärker bemerkbar machen.
Die Staatshaushalte stehen unter stärkerer Beobachtung. Ratingagenturen verkünden wieder Warnungen oder sogar Herabstufungen, z. B. gegen Frankreich. Die Mini-Haushaltskrise des letzten Jahres im Vereinigten Königreich hat gezeigt, dass kein Land vor einem Anstieg der von Anlegern verlangten Risikoprämie sicher ist. Darüber hinaus wird die Europäische Union nach vier Jahren Pause die Fiskalregeln zunächst in ihrer alten Form wieder einführen, bevor die Mitgliedsstaaten sich auf eine Reform dieser Regeln einigen. Das Schuldenkriterium (60 % des BIP) wird wahrscheinlich weitgehend ignoriert werden, nicht aber die Defizitregel (3 % des BIP). Mitgliedsstaaten wie Frankreich und Italien, die diese Schwelle überschreiten, werden strukturelle Anpassungen vornehmen müssen.
Die Schwierigkeit besteht darin, diese Maßnahmen angemessen zu dosieren, damit haushaltspolitische Entscheidungen vor dem Hintergrund der bereits sehr restriktiven Geldpolitik die Wirtschaft nicht zu stark belasten, aber gleichzeitig glaubwürdig sind. Die erforderlichen Anstrengungen sind allerdings weniger groß als nach der Finanzkrise von 2008/2009. Damals hatte sich der Primärsaldo der Staatshaushalte um 3,5 BIP-Punkte verschlechtert, nach der Pandemie waren es nur 1,5 Punkte.
Die Handlungsspielräume sind jedoch nicht in jedem Land gleich groß (siehe Grafik). Deutschland hat zwar die schlechtesten Wachstumsperspektiven, weist jedoch eine relativ niedrige Staatsverschuldung auf. Das Haushaltsrisiko des Landes ist moderat. Im Gegensatz sind die Staatsschulden in Italien so hoch, dass das gesamte für 2024 geplante Defizit für die Tilgung der Zinslast aufgewendet wird. Dieses Land schafft es am häufigsten, einen ausgeglichenen Primärhaushalt aufzustellen. Frankreich schwächelt an mehreren Fronten. Die Staatsverschuldung ist hoch, die Ausgaben sind auch ohne Zinslast chronisch höher als die Einnahmen, und die Steuerlast gehört bereits jetzt zu den höchsten der OECD-Staaten. Für 2024 sind daher haushaltspolitische Stressphasen nicht auszuschließen.
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